Die Mitte

Die Mitte

In alten Zeiten hatte auch unsere westliche Medizin mit der Mitte zu tun, was sich noch im Wort Medizin selbst spiegelt. Es hat denselben Wortstamm wie das Wort Meditation, das mit der tibetischen Medizin bis heute verbunden ist, von der westlichen Medizin dagegen immer noch aus großer Distanz sehr kritisch beäugt wird. Dass Meditation und Medizin nichts miteinander zu tun haben, sollte ich ausdrücklich als Student und junger Arzt akzeptieren und konnte es doch nie. Der tibetischen Medizin-Tradition ist solch ein schwachsinniger Gedanke nie gekommen, sie verbindet beides ebenso zwanglos wie erfolgreich zu einer Medizin, die nicht annähernd so viele unzufriedene Patienten hervorbringt wie die vergleichsweise enge moderne Medizin, die viel lieber ausschließt als integriert und so ihre Studenten noch immer auf Abwege und in Sackgassen schickt. Für mich persönlich sind Gesundheit und Meditation ganz nah verbunden und das hat sich in 30 Jahren für viele Patienten sehr bewährt. Insofern bin ich dem tibetischen Gedankengut viel näher als dem ausschließlichen der deutschen Universitätsmedizin. Wobei ich allerdings hoch erfreut feststelle, dass allmählich auch diese elitäre Richtung nicht umhin kann, vieles anzuerkennen, was bisher ausgeschlossen wurde. Inzwischen zeigen Studien der Psychoneuroimmunologie, dass Meditation die Abwehrkraft stärkt und andere Untersuchungen belegen, wie sie hohen Blutdruck senken, den Blutzucker normalisieren und sogar die Gehirnleistung steigern kann. Die Zeiten, wo von der Universität alles was von Menschen nicht weißer Hautfarbe über Jahrtausende gefunden wurde, von vornherein ausgeschlossen und diskreditiert wurde, könnten allmählich zu Ende gehen. Es ist letztlich wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die indische, chinesische und tibetische Medizintradition ernsthaft untersucht und in der Folge akzeptiert werden muss. Das vorliegende Buch könnte diesen Schritt beschleunigen und erleichtern.
Im Wort Medizin schwingt neben der Mitte noch das rechte Maß mit, stammt es doch von dem Verb „medere“ ab, was ermessen bedeutet. In früheren Zeiten ging es auch den Ärzten unserer Medizin noch darum, das rechte Maß zu finden für den jeweiligen Patienten und ihn so wieder zurück in seine Mitte zu bringen. Der Verlust der Mitte galt auch hierzulande damals noch als entscheidendes Problem. Und das Heilmittel war folglich das re-medium, was nichts anderes bedeutet, als „re“ = „zurück zur „medium“ = Mitte und heute noch in der bewährtesten Bachblüten-Mischung namens rescue remedy anklingt. Bachblüten-Therapeuten verabreichen diese Mischung, wenn ein Mensch seine Mitte verloren hat, weil ihn ein Schock oder Unfall oder irgendein schweres Ereignis um- und aus seiner Mitte geworfen hat. Selbst in unserem modernen Wort Heilmittel schwingt noch die Mitte mit, und so könnte es uns den Weg zu einer Medizin weisen, die erstens den Menschen in die Mitte stellt und zweitens versucht, ihn wieder in seine Mitte zu stellen oder ihn doch darin unterstützt, diese wieder zu finden.
Früher war die Suche nach der Mitte das vorrangige Ziel von Ärzten auf der Suche nach Gesundheit, während moderne Mediziner mit diesem Begriff nicht mehr viel und schon gar nicht Gesundheit verbinden. In der tibetischen Medizin, die untrennbar mit der tibetischen Kultur und folglich der Tradition des Vajrajana Buddhismus verbunden ist, spielt die Mitte die zentrale Rolle. Ihr ist nicht zufällig das Mandala oder Yantra zentrales Symbol, das alle Blicke in die Mitte zieht. Es spielt bezeichnender Weise in der modernen Medizin keine Rolle und wird von ihr auch weder als Heilmittel noch als Landkarte der Seele erkannt, wie von tibetischen Ärzten. Westliche Mediziner brauchen nach eigener Einschätzung heute gar keine Landkarte mehr, denn sie sind gar nicht auf der Suche, und die Seele ist nicht mehr ihr Anliegen.
Während die tibetische Medizin wie praktisch alle alten Heiltraditionen der Hochkulturen wie auch archaischer Völker den ganzen Menschen im Auge hatten, geht es der modernen Medizin vor allem um dessen kranke Teile. Insofern kommt sie auch auf die Idee, Teile auszutauschen oder hat die Hoffnung, einzelne Abschnitte ohne große Rücksicht auf den ganzen Rest reparieren zu können. Das spiegelt sich in der – aus Sicht des kranken Menschen nicht aus der der Forschung - immer grotesker werdenden Spezialisierung. Facharzt für Innere Medizin zu sein, reicht da schon lange nicht mehr, man muss schon Kardiologe oder Pulmologe, Endokrinologe oder Gastroenterologe werden, um in der modernen Medizin etwas darzustellen. Am nettesten wird die Sackgasse an der Niere deutlich, wo sich bereits zwei Facharzttypen um das gleiche Organ streiten. Während die Nephrologen oben in der Niere sitzen, bohren von unten aus dem Harnleiter die Urologen herauf und haben bereits das Nierenbecken für sich erobert. Kein Wunder, dass sich Menschen nicht verstanden und immer häufiger auch gar nicht gemeint fühlen, wenn Mediziner von der Niere aus Zimmer 14 sprechen. Moderne Ärzte suchen Abweichungen von den Normwerten und sind heute fast mehr mit diesen oder ihren wirklich sensationellen Bild gebenden Maschinen als mit den kranken Menschen beschäftigt.
Darin mag einer der Gründe liegen für die zunehmende Popularität der tibetischen aber auch anderer traditioneller Medizinsysteme, die auf Philosophien zurückgehen wie etwa auch die indisch-ayurvedische oder die traditionelle chinesische Medizin (TCM), denen gemeinsam ist, dass ihre Therapeuten noch den ganzen Menschen mitsamt seiner Seele und seinem Geist im Auge haben und ihm dazu verhelfen wollen, seine Mitte zurück zu gewinnen.    Wie richtig und wie tief dieser Gedanke auch in unserer Medizin noch verwurzelt ist, erkennen wir, wenn wir wiederum einen Rückblick in der Zeit riskieren. Noch im Mittelhochdeutschen hieß das Wort für Krankheit „Suht“ und wurde „Sucht“ geschrieben. Sogar heute spricht die Bevölkerung von Gelbsucht, wenn Mediziner Hepatitis meinen. Mein Großvater, ebenfalls Arzt, redete noch ganz selbstverständlich von Schwindsucht, wo wir heute TBC sagen. Noch etwas früher hieß die Anämie Bleichsucht, die Epilepsie Fallsucht, das Ödem Wassersucht und die agitierte Psychose Tobsucht. Und davor galten alle Krankheitsbilder als Süchte. Man ging automatisch davon aus, dass sich ein kranker Mensch auf der Suche seiner Seele nach Erfüllung verirrt und seine Mitte verloren hatte. Er war aus der Ordnung gefallen, und es galt diese wieder herzustellen. Die östliche Heilkunde ist diesem Gedanken treu geblieben und bleibt ihm weiterhin verpflichtet. In China, das sich nicht umsonst „Reich der Mitte“ nannte, beherrschte die taoistische Philosophie mit ihrem Versuch Yin und Yang in allen Bereichen des Lebens in Ausgleich zu bringen, das gesamte Leben und nicht nur die Medizin.
Das ist in Tibet sehr ähnlich. Der tibetische Arzt ist in der Regel ein Lama, also ein Mensch auf dem spirituellen Weg, der für sich persönlich Befreiung sucht und diese auch als Ziel für seine Patienten immer im Hinterkopf hat. Er kann gar nicht auf die Idee kommen, langfristige Entwicklung und nachhaltiges Lernen gegen kurzfristige Symptomfreiheit einzutauschen, wie es zum Erfolgskonzept der westlichen Medizin geworden ist.
Die moderne Medizin hat die Süchte zu einem Spezialthema der Psychiatrie gemacht und damit scheinbar aus dem Leben ausgelagert, wie es an der Position der Psychiatrie deutlich wird, die ein sehr tabuisiertes und verstecktes Leben führt, deren Landeskrankenhäuser einen furchtbaren Ruf haben und von der Bevölkerung auf der Ebene von Gefängnissen eingeschätzt werden. Niemand will etwas davon wissen, dass inzwischen laut EU-Kommission über ein Viertel der EU-Bevölkerung psychiatrisch behandlungsbedürftig ist und dass 80 % davon unter Depressionen leiden, ohne das oft selbst zu wissen. Dass bei uns ein Drittel der Bevölkerung im Leben eine Psychose erleidet, löst zwar entsetztes Staunen aus, führt aber zu keinerlei Konsequenzen im Hinblick auf die Beschäftigung mit den Ursachen wie dem eigenen durch systematische Verdrängung immer mächtiger werdenden Schatten.
Die gravierendsten Süchte, die Hab- und die Eifersucht, die am meisten Unheil auf der Welt stiften, sind bei uns sogar vollkommen aus der Medizin ausgegliedert worden. Dafür ist einfach niemand mehr zuständig, was aber nur dazu geführt hat, dass besonders in der westlichen Welt Beziehungen massenhaft an Eifersucht zerbrechen und genau genommen nicht nur ganze Länder und Kontinente sondern eigentlich sogar die ganze Welt an der Habsucht ausgerechnet jener Menschen aus der westlichen Welt zugrunde zu gehen droht.
Durch das Negieren und den Kopf in den Sand stecken verschwinden Probleme jedoch nie. Die allopathische Wirklichkeits-Betrachtung unserer Medizin geht aber genau diesen Weg: zudecken und nicht mehr darüber nachdenken. Lediglich die Homöopathie kann hier bei uns noch eine Alternative bieten, für sie sind Eifer- und Habsucht selbstverständlich wichtige Symptome, wie natürlich auch für die tibetische Medizin und die anderen Heiltraditionen des Ostens und vieler archaischer Völker.
Sehr konkret oder wenigstens intuitiv ahnen aber auch die Menschen bei uns, dass diese Süchte ihre Leben bedrohen und oft genug ruinieren und wenden sich – nicht nur, aber auch aus diesem Grund – zunehmend Heiltraditionen wie der tibetischen zu, die den ganzen Menschen in seinem ganzen Elend erkennen und behandeln. Dass ein sehr eifersüchtiger und habsüchtiger Mensch nicht in seiner Mitte ruht, ist offensichtlich, dass er nicht glücklich sein kann, ebenso. Er wird im Gegenteil außer sich sein, und das ist offensichtlich ungesund. Möglicherweise sind seine Laborwerte noch in der Norm und sein Organismus zeigt im Computertomographen noch keine Abweichungen. Er ist zwar seelisch schwer gestört und gefährlich unglücklich, folglich also krank, aber noch längst kein Fall für unsere moderne Medizin. Diese muss warten, bis sich das Elend im Körper niederschlägt, so lange aber wollen immer mehr Menschen einfach nicht warten und wenden sich Heiltraditionen wie der tibetischen zu, deren Ärzte zum Beispiel an der Pulsqualität schon lange im Vorfeld erkennen, was aus dem Ruder gelaufen ist und die auch seelische Probleme ernst nehmen.
Persönlich erlebe ich seit 25 Jahren, dass auch westliche Menschen sehr wohl merken, dass Kränkungen sie krank machen, dass soziale Kälte sie häufig erkältet sein lässt und dass arbeitslos sein und nicht gebraucht werden zuerst traurig und dann verzweifelt macht und schließlich so auf die Nerven geht, dass das ganze irgendwann in die Depression mündet. Auch wenn die Schulmedizin solche Zusammenhänge konsequent übersieht oder jedenfalls nicht für besonders erforschenswert hält, wissen die Menschen es besser und fangen in Eigenregie an, ihren Zustand zu deuten und zu verstehen